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Ist Europa zu kompliziert? Einfach und langweilig können andere besser

Europa

Jaja. Natürlich wissen wir alle, dass Europa irgendwie wichtig ist. Gleichzeitig löst Europa bei uns schlechte Laune aus. Zu kompliziert. Zu viel Geld fließt von irgendwoher nach irgendwohin. Zu viel Bürokratie. 27 Länder, die sich nie einigen können, sondern am Ende immer nur fadenscheinige Kompromisse machen. Das ist unser Grundgefühl.

Jetzt gibt es die sogenannten “Sparsamen”. Das sind Länder, deren Bewohner oft eine Menge Geld auf der hohen Kante haben und Arbeitnehmer, noch bevor sie  60 Jahre alt sind, in Rente gehen. Seltsam.

Europa – von Zahlmeistern und Jammerlappen

Dann gibt es die Zahlmeister. Deutschland zum Beispiel. Hierzulande hat man das Gefühl, dass wir immer nur die Rechnung begleichen. Wenn es mal einen Notfall gibt  – wie zum Beispiel die Flüchtlingswelle – stehen wir alleine da.

Und dann gibt es noch die Jammerlappen, die immer nur Geld von den anderen haben wollen. Als Kredit? Nein, bitte nicht. Als Spende. Wer denkt denn an Rückzahlung? Diese Länder sitzen jetzt schon auf einem Schuldenberg, der zu hoch ist, um ihn jemals abzutragen.

Brüssel? Straßburg? Wer kann das auseinanderhalten? Wenn man im Café jemanden fragt, was in diesen Städten politisch entschieden wird, gibt es nur sehr selten eine richtige Antwort. Dass die Europa-Abgeordneten sehr viel Geld verdienen und umsonst in der Gegend herumfliegen, weiß dagegen jeder. Falls bald wieder geflogen wird…

Das 20. Jahrhundert war eines der blutigsten Jahrhunderte der Geschichte. Dass es nach diunder unserer Gegenwart.

Unser Europa: Versöhnung und Freizügigkeit

Deutsche Soldaten haben ganze Ortschaften in Italien oder Frankreich dem Boden gleich gemacht, Bewohner massakriert. Heute fahren wir ganz entspannt mit dem Auto durch diese Gegenden und trinken einen Cappuccino oder Café au Lait.

Das ist unser Europa: Versöhnung, Frieden, Freizügigkeit, Wertschätzung der Nachbarn. Wir schwärmen von Slowenien oder Kroatien. Wir haben gelernt von der französischen Lebenskunst, der italienischen Leichtigkeit und dem digitalen Fortschrittstempo in Estland.

Warum gelingt es nicht, diese Zuneigung in eine unkomplizierte politische Realität zu verwandeln? Vielleicht weil wir nicht unkompliziert sind!

Wir sind anspruchsvoll, leben unsere in Jahrhunderten entwickelten Kulturen. Wir wissen, was wir vom Leben wollen, wie ein Brot schmecken muss, wie Liebe gelebt wird. In 27 unterschiedlichen Ausformungen. Deshalb kann europäische Politik nicht unkompliziert sein. Sie ist der Spiegel unserer historisch gewachsenen, nationalen Kulturtechniken.

Mehr Verständnis für die, die Politik machen

Uns bleibt also nur, mehr Verständnis für die Politikmacherinnen und Politikmacher in Straßburg und Brüssel zu haben. Vielleicht auch etwas mehr Interesse an ihrer Arbeit. Und wir sollten uns daran erinnern, dass sie die vielleicht kompliziertesten Nationalstaaten der Welt mit all ihren Eigenheiten repräsentieren.

Einfach ist oft stromlinienförmig, dumm und langweilig. Das können andere viel besser als wir Europäer.

 

Dieser Text erschien zuerst auf stern.de, Foto:  _TC Photogr

CDU-Quote: Die Frauen müssen es richten

Laschet
Wer soll bloß Merkels Nachfolger werden? Bis jetzt sind nur Männer im Gespräch. Doch die nehmen sich gerade selber aus dem Spiel. Jetzt müssen die Frauen ran.

Das ist wohl der letzte Akt von Angela Merkel: Die Einführung einer Frauenquote in der CDU. 50 Prozent der Parteiämter und der öffentlichen Mandate sollen in Zukunft mit Frauen besetzt werden. Das steht jedenfalls in einem Beschlussentwurf, den Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer den Gremien vorlegen will. Die Quote soll bis 2023 erreicht werden.

Mit der Frauenquote wäre Merkels Projekt gekrönt. Ihr Projekt, die CDU weiter in die Mitte zu rücken. Merkel-Kritiker meinen: nach links. Nach Abschaffung der Wehrpflicht, Stopp der Atomkraft und der Aufnahme von Millionen Flüchtlingen und Einwanderern in Deutschland jetzt also eine Frauenquote.

Gibt es überhaupt noch konservative Kreise in der CDU, die sich darüber aufregen? Sie sollten sich ganz schnell beruhigen und die Chance für ihre Partei erkennen. Denn es gibt derzeit keine CDU-Männer, die sich für Merkels Nachfolge aufdrängen.

1. Der Verwirrte
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet hatte eigentlich sehr gute Chancen, neuer Parteichef und Kanzlerkandidat zu werden. Er gilt als jovial, mehrheitsfähig und elastisch genug für den Job. Doch in den vergangenen Wochen leistete er sich Schnitzer.

Erst befürwortete Laschet schnelle Corona-Lockerungen, dann musste er als erster Ministerpräsident einen regionalen Lockdown erlassen. Dafür machte er vorschnell und unklug “Bulgaren und Rumänen” verantwortlich. Kurz danach erklärte er, dass in Fleischbetrieben von nun an Recht und Ordnung gelten solle. Was galt denn bisher, fragten sich viele.

Den Lockdown im Kreis Gütersloh setzte inzwischen das Oberverwaltungsgericht des Landes NRW außer Kraft. Es brauche eine “differenziertere Regelung”. Autsch.

2. Der Altbackene
Die Hoffnung der Konservativen in der CDU hat einen Namen: Friedrich Merz. Doch bis jetzt wirkt Merz altbacken. In sozialen Netzwerken gereizt und überfordert. In einer Talk-Show ließ er sich von der Klima-Aktivistin Luisa Neubauer vorführen. Diese erklärte ihm, er sei “mandatspolitisch gesprochen, überhaupt nichts”. Außer einem väterlichen Dackelblick fiel Merz nichts dazu ein.

Was bleibt, ist die Aura seines wirtschaftlichen Erfolges beim Investment-Giganten Blackrock. Dazu Merz: “Es kann für die Übernahme einer politischen Führungsposition durchaus von Vorteil sein, wenn man noch weiß, wie der normale Mensch auf der Straße tickt.” Damit wäre Merz raus aus dem Kandidaten-Rennen. Denn ein Mann, der laut eigener Aussage rund eine Million Euro brutto im Jahr verdient hat, kann das wohl kaum nachvollziehen.

3. Der Maskenmann
Dann wäre da noch Gesundheitsminister Jens Spahn. Er bewies in der Krise Mut zur Selbstkritik. Nicht jede Maßnahme der Regierung sei richtig gewesen, gab er zu Protokoll. Damit meinte er wohl in erster Linie sich selber. Denn im Januar behauptete Spahn: Die Angst vor dem Virus sei “gefährlicher als das Virus selbst.” Außerdem versäumte er es, rechtzeitig Schutzkleidung und Masken anzuschaffen. Dem Engpass begegnete er mit dem Argument, dass Masken nicht sehr hilfreich seien.

Die erste wirklich wirksame Maßnahme gegen Corona, den “sozialen Abstand”, verkündete dann die Kanzlerin selbst, als sie Spahn im März das Ruder aus der Hand nahm – und sich bei ihm kühl für den “tollen Job” bedankte. Spahns Beitrag zur deutschen Strategie gegen die Krise ist nicht erkennbar.

4. Der Anfänger
Eigentlich wirkt Philipp Amthor wie jemand, der es packen könnte. Der junge Bundestagsabgeordnete besitzt eine geschliffene Rhetorik, unzerstörbares Selbstvertrauen und Mut zum Anecken. Aber wie kann ein studierter Jurist auf die Idee kommen, einer Firma, an der er beteiligt ist, im politischen Berlin den Weg zu bahnen? Ist das naiv? Oder unverschämt? Oder dumm? Egal. Amthor muss jetzt ein paar Extrarunden drehen, bevor er wieder mitspielen darf.

Funktionierende Konservative gibt es eigentlich nur noch außerhalb der CDU. Olaf Scholz ist Merkels bester Mann – und leider in der SPD. Man mag es kaum glauben. Markus Söder ist in der CSU und als Bayer wahrscheinlich kein Kandidat für ganz Deutschland. Sebastian Kurz ist Kanzler in Österreich. Deshalb ist die Quote die letzte Chance für die CDU. Jetzt müssen die Frauen ran! Die CDU-Männer können es offenbar nicht.

 

Foto: Mark Susina / Flickr

Diese Kolumne erschien zuerst auf stern.de

 

Warum wir den Wendler lieben

Wendler

Er ist kein besonderer Sänger, nicht auffallend schön oder klug – aber mehr als 500.000 Menschen aus allen Schichten wollten seine Nasen-OP im Fernsehen sehen. Warum? Ein Erklärungsversuch.

Wie macht dieser Mann das bloß? Deutschland diskutiert über schwergewichtige Themen wie die strauchelnde Wirtschaft nach der Corona-Krise, doch ein eher leichtgewichtiger Entertainer schafft es, jeden Tag im Gespräch zu bleiben. Immer wieder. Unaufhörlich.

Er hört auf den nicht gerade nahe liegenden Namen „der Wendler“. Eine schnelle Google-Recherche bringt ein regelrechtes Wendler-Nachrichtengewitter zum Vorschein. Ein paar Beispiele aus den letzten Tagen:

– „Namens-Zoff mit dem Wendler“, meldet RTL Online.

– „Wendler: Tochter Adeline mit deutlichen Worten“, berichtet Derwesten.de.

– „Haben der Wendler und Laura alle hinters Licht geführt?“, fragt die tz.

– „Laura bangt, der Wendler schwankt“, dichtet T-Online.

Michael Wendler heißt eigentlich Michael Norberg und wurde als Michael Skowronek geboren. Das kann passieren. Der gelernte Speditionskaufmann ist in Dinslaken geboren – und sieht auch so aus. Vollkommen durchschnittlich. Der sportliche 48-Jährige hat schwarz getönte Haare, eine zweifach operierte Nase, einen eigenwilligen Modegeschmack und trägt strahlend grüne Kontaktlinsen. Jedenfalls wollen führende Wendler-Forscher das herausgefunden haben.

Nach seinem Aufenthalt im TV-Dschungel und einer Fernsehshow mit Oliver Pocher waren sich die Küchenpsychologen einig, dass Wendlers Charme und seine Gedankentiefe sehr schnell an Grenzen stoßen. In seiner TV-Show gelingt es ihm immerhin überzeugend, einen freundlichen Kumpel-Typ von Nebenan darzustellen.

Wendlers Musik klingt etwa so, wie ein Plastikkeyboard aus dem vor sehr vielen Jahren geschlossenen Hertie in Dinslaken. Seine Texte sind – ach, am besten ich zitiere hier einen seiner Songs:

„Gut, dass Männer nie weinen, Sowas wirst du nie sehen
Wir sind so hart wie Stein, Uns fehlt einfach das Gen“

(Aus „Gut, dass Männer nie weinen“)

Selbstverständlich hat niemand diese Songs jemals gekauft oder gehört, wenn man persönlich nachfragt. Trotzdem soll „der Wendler“ mehr als eine Millionen Tonträger unter die Leute gebracht haben. Ein Wendler-Wunder.

Der bis jetzt erfolgreichste Aufmerksamkeits-Coup des Wendlers: Er suchte sich eine sehr junge Freundin (19), die Laura heißt, und die hin und wieder vergisst sich anzuziehen. Der Wendler-Vater Manfred Weßels (72) nennt Laura deshalb öffentlich „Nacktmädchen“ und bestreitet auch nach der Hochzeit, dass die beiden wirklich ein Paar seien.

Die Fotografen vom Playboy und TV-Show-Produzenten sind dagegen sehr zufrieden mit Laura. Die beiden frisch Vermählten heißen jetzt offiziell „Norberg“. Das ist der Nachname von Wendlers Ex-Frau, die von dieser Idee wenig hält. Das alles muss man erstmal sacken lassen.

Aus Anlass der TV-Hochzeit von Laura und Michael in Florida schalteten jedenfalls unfassbare 10 Prozent der deutschen Fernsehzuschauer ihre Empfangsgeräte ein. Bei der Nasen-OP waren es deutlich weniger. Aber immer noch mehr als genug. Überraschend viele meiner Freunde und Kollegen waren auch dabei. Warum?

Der Wendler wird gerne beschimpft, aber noch lieber im Fernsehen bestaunt. Wir starren gebannt auf dieses Phänomen, erwischen uns dabei – und suchen verzweifelt nach Gründen, warum uns die Momente in der Wendler-Welt so wichtig sind.

In der Wendler-Welt hat nichts eine Bedeutung. Er gibt keine Referenzen, keine Fußnoten, keine Andeutungen, keinen doppelten Boden. Die anstrengende Erdanziehung ist außer Kraft gesetzt. Alles ist federleicht. Wir Wendler-Bewunderer wünschen uns: So leicht soll sich meine eigene Welt auch ein bisschen anfühlen.

Wichtige Themen dringen nicht in die Wendler-Welt. Dafür sind andere Dinge mit einer eigenen Wendler-Bedeutung aufgeladen. Sein Haarschnitt. Seine Nase. Der knappe Slip seiner Freundin. Das reicht für ein paar Stunden Unterhaltung. Beim Wendler sind wir sicher. Hermetisch abgeriegelt von Sorgen, Stress und Sensationen.

Der Wendler präsentiert sich so originell wie Kartoffelsalat, etwas altmodisch wie gelbe Brause und so hilflos gestylt wie eine Tchibo-Filiale in der Fußgängerzone. Trotzdem hat er eine junge, schöne Frau, ein Motorboot, eine TV-Show und ein Haus in Florida. Wie macht dieser Mann das bloß, fragen wir uns – und auch kluge Geister sind gerne immer wieder dabei, um vielleicht irgendwann die Lösung dieses eigentlich unlösbaren Rätsels zu ergründen.

FOTO: YOUTUBE

Facebook und Twitter zu regulieren, entfernt nicht den Hass auf der Welt

 

Die mächtigste Waffe des amtierenden US-Präsidenten ist Twitter. Der Kurznachrichtendienst verbindet ihn direkt mit seinen Fans und Gegnern. Mit der ganzen Welt. Er haut seine Botschaften raus. Unbedacht, unredigiert und ungeprüft. Mit der Wahrheit nimmt er es dabei nicht so genau.

Niemand steht zwischen Trumps Tweets und seinen 80 Millionen Empfängern. Vor allem keine Journalisten, die Donald Trump so fürchtet – und deshalb aus ganzem Herzen hasst. Das erklärt seine Liebe zu dem Medium. Ausgerechnet Trump greift jetzt Twitter an.

Twitter hatte öffentlich einen Tweet des Präsidenten als Falschinformation, einen weiteren als Gewaltverherrlichung gekennzeichnet. Ein Narzisst wie Trump kann sich das natürlich nicht gefallen lassen. Facebook ließ dagegen umstrittene Posts von Donald Trump unkommentiert stehen.

Ein Gesetz aus dem Jahr 1996 sorgt dafür, dass soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook nicht für die Inhalte, die dort verbreitet werden, haftbar gemacht werden können. Trump will dieses Gesetz mit einem Dekret aufheben. Mit desaströsen wirtschaftlichen Folgen für die Netzwerke. Juristisch hat der US-Präsident allerdings wenig Aussichten auf Erfolg.

Mark Zuckerberg vertritt eine klare Linie

Auch Facebook hat dieser Vorgang nachdenklich gemacht. CEO Mark Zuckerberg vertritt aber eine ganz klare Linie. Es wird nichts gelöscht oder moderiert. Aus seiner Sicht wäre das ein Verstoß gegen das Prinzip der freien Meinungsäußerung. Das Problem: Die Mehrzahl seiner Mitarbeiter sehen das anders. Sie legten am Montag zum Teil die Arbeit nieder und fordern, dass Facebook-Beiträge des US-Präsidenten und andere geprüft und moderiert werden.

Die Sehnsucht nach einem Schiedsrichter oder Prüfern für soziale Netzwerke ist verständlich. Sogar liberale Geister wie der Chefredakteur der Welt am Sonntag, Johannes Boie, wünschen sich eine “demokratisch legitimierte Regulierung”: “Die Abwägung, was Gewaltverherrlichung ist und was nicht, was Ironie und was Beleidigung strafbar ist, was Volksverhetzung ist und was von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, müssen Beamte treffen, die entsprechend ausgebildet sind.” Auch “Zeit”-Journalistin Lisa Hegemann und CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer haben in eine ähnliche Richtung argumentiert.

Diese Sehnsucht nach Regulierung ist gleichzeitig ein Problem. Denn wen wollen wir entscheiden lassen, was Wahrheit, was Fakten, was Hass oder Liebe ist? Twitter oder Facebook? Beamten einer Wahrheitsbehörde?

Sollen soziale Netzwerke noch mehr Macht bekommen?

Wollen wir wirklich den Netzwerken, die viele Menschen jetzt schon als zu mächtig und manipulativ empfinden, noch mehr Macht und Einfluss darüber zukommen lassen, was wir lesen und worüber wir nachdenken? Soll ein Facebook-Redakteur entscheiden, welche Wissenschaftler während einer Pandemie gehört oder nicht gehört werden oder ob wir Donald Trump ungefiltert bekommen oder nicht? Das ist ein gefährlicher Weg.

Trump stellte während seiner Präsidentschaft rund 18.000 falsche Behauptungen auf. Laut “Washington Post” mehr als 20 pro Tag. Wir durften dabei sein. Live. Per Twitter. Die Dekonstruktion des amerikanischen Präsidentenamtes geschah vor unseren Augen. Das ist ein Verdienst der sozialen Netzwerke. Es liegt jetzt in unserer eigenen Verantwortung, mit dieser Realität, die von Twitter und Facebook lediglich gespiegelt werden, umzugehen.

Bitte nichts löschen!

Ein Verbot oder eine Regulierung der Netzwerke sind keine guten Mittel gegen den Hass in dieser Welt. Auch ohne Facebook gäbe es zu viel Wahnsinn und Verschwörungstheorien. Netzwerke machen die dunkle Seite sichtbar. Das ist unappetitlich, klar. Aber es ist gleichzeitig ungeheuer kostbar, weil wir der Realität unverstellt ins Auge blicken können. Bitte nichts davon löschen! Nur wenn es gegen geltendes Recht verstößt. Das wird ja auch heute schon gemacht.

Die Freiheit der neuen Medien kommt mit einer Verantwortung für ihre Nutzer. Die Last zu entscheiden, was relevant ist, was wahr und falsch ist, liegt bei ihnen. Das ist nicht zu ändern – und leider sehr anstrengend und fehleranfällig. Doch diese Last darf uns niemand abnehmen.

Es helfen nur Bildung, Kompetenz, ein kritischer Geist, um die Twitter-Botschaften Trumps zu enttarnen, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien auf Facebook zu durchschauen. Oft auch die seriösen Medien. Vielleicht klingt das naiv. Aber jeder andere Eingriff oder Regulierung wäre Schützenhilfe für Verschwörungstheoretiker und eine direkte Bedrohung für eine unserer größten demokratischen Errungenschaften: Meinungsfreiheit.

Phrasen der Pandemie: Neun Corona-Sätze, die schnell verschwinden müssen

 

Die Lage scheint sich zu bessern. Menschen sind zurück auf der Straße, Kinder dürfen in die Kita, Schulen öffnen langsam ihre Pforten. Die Hoffnung ist groß, dass wir das Schlimmste überstanden haben. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie werden wir in Deutschland allerdings noch sehr lange spüren.
Bleiben werden leider auch ein paar Sätze, die ich einfach nicht mehr aus meinem Kopf bekomme. Sie haben sich in mein Gehirn gefräst wie ein Ohrwurm. Aber leider ist das Lied nicht sehr gut. Zu oft wurden sie nachgeplappert. Zu selten wurden sie hinterfragt.

Hier meine Top Ten der furchtbaren Corona-Sätze, die ich mir endlich von der Seele schreiben muss. Vielleicht ist es dann vorbei:

1. “Wir sind gerade erst am Anfang der Pandemie.”
Mit diesen Worten warnte uns zum Beispiel die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim am 24. April im TV-Talk von Maybritt Illner. Aber wovor eigentlich? Unzählige andere verwendeten diesen Satz, ohne zu erklären, was sie damit meinen. Zum Beispiel unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 21. April und noch einmal am 27. Mai, als die Zahlen der Neuinfizierten bereits im Sinkflug waren. Wo stehen wir denn derzeit? Immer noch am Anfang? In der Mitte? Am Anfang des Endes? In den vergangenen Tagen wurde diese nebulöse Formulierung deutlich seltener gebraucht. Sind wir vielleicht schon am Ende des Endes? Oder sind wir gerade erst am Anfang eines neuen Anfangs?

2. “Die Maske schafft ein falsches Sicherheitsempfinden.”
So ähnlich formulierte es etwa ARD-“Tagesthemen”-Kommentator Oliver Jarasch. Er kritisierte die Maskenpflicht, weil sie eine Sicherheit suggeriere, “die nicht da ist”. Ja, danke für den freundlichen Hinweis, Herr Jarasch. Küssen mit Maske geht jedenfalls nicht. Sogar wenn man sich fälschlicherweise in Sicherheit wiegt.
Viele Deutsche haben übrigens auf Masken gesetzt, als der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, noch im Fernsehen behauptete, die Asiaten würden den Mund-Nase-Schutz nur aus Eitelkeit tragen, weil blasse Haut ihrem Schönheitsideal entspräche. Vielleicht tragen sie die Maske aber auch deshalb, weil sie verhindert, dass man seine Tröpfchen ungehindert in die Gegend niest. Ganz einfach. Und völlig frei von jedem falschen Sicherheitsempfinden.

3. “Wer eine abweichende Meinung hat, ist gleich Verschwörungstheoretiker.”
Was ist denn eure “abweichende Meinung”? Kommt doch bitte mal auf den Punkt, liebe Meinungsabweichler. Dann könnte man konkret diskutieren. So bleibt es leider beim wolkigen Geschwurbel, das man leicht mit Verschwörungstheorie verwechseln könnte. Jeder kann laut seine Meinung sagen. Jeder sollte allerdings damit rechnen, dass Unsinn dann auch als Unsinn bezeichnet wird.

4. “Auch die Wissenschaft lernt täglich dazu.”
Niemals in der Geschichte Deutschlands gab es so viele Wissenschaftstheoretiker wie heute. Man trifft sie an der Eisdiele, auf Spielplätzen, überall. Jeder scheint zu wissen, was Wissenschaft leisten kann und was nicht. Bitte lasst uns endlich diesen Spruch vergessen und die Forscher ihren Job machen.

5. “Eine ganze Generation wird traumatisiert.”
Das sagt zum Beispiel die Professorin für Unternehmensführung, Organisation und Personalwesen, Ruth Stock-Homburg: “Je länger diese Phase andauert, desto größer wird die Gefahr, dass eine ganze Generation psychologisch traumatisiert wird.” Geht es vielleicht eine Nummer kleiner? Fragen Sie doch bitte meine Eltern, die ihre Kindheit in Nazideutschland und im Weltkrieg erlebt haben. Dann rücken sich vielleicht die Maßstäbe zurecht.

6. “Warum dürfen denn die Fußballer spielen?”
Weil sie einen Plan gemacht haben. Und weil viele andere überhaupt keinen Plan hatten. Sich zu beschweren, ist natürlich viel einfacher, als sich neu zu organisieren und ein paar Ideen zu entwickeln.

7. “Wir sind ein Volk von Befehlsempfängern.”
Wir befinden uns “auf dem Weg ins Zeitalter der totalen Medizin”, sagt der Journalist Jakob Augstein. “Wir sind ja alle Teil einer Apokalypse-Industrie geworden”, sagt der Journalist Gabor Steingart. “Wir sind ein Volk von Befehlsempfängern – und Denunzianten”, sagt die einstige Chefredakteurin der “Bunten”, Patricia Riekel. Warum müssen persönliche Ängste und Sorgen zu solch monströsen gesellschaftspolitischen Pseudoanalysen aufgebauscht werden? Niemand, den ich kenne, ist kritiklos oder unbeeindruckt von den einschneidenden Corona-Maßnahmen. Die meisten reagieren aber maßvoll und differenziert. Im Gegensatz zu meinen oben zitieren Journalisten-Kollegen.

8. “Noch vor ein paar Wochen konnte sich niemand vorstellen, dass… “
Tja, so ist das im Leben. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Von dieser Sorte Plattitüden gibt es zahllose andere. Wie wäre es mit: “In Zeiten von Corona…”. “Wir sehen unsere Firma für die Krise gut gerüstet…”. “Niemand weiß, ob eine zweite Welle kommt…”. “In der Corona-Krise steckt auch eine Chance für…”. “Genießen wir am besten die Entschleunigung…”. “Dr. Drosten hat gesagt, dass…”. “Zur Normalität vor der Krise dürfen wir nicht wieder zurück…”. Gnade. Lasst mich bitte wenigstens in die Zeiten vor diesen Floskeln zurück!

9. “Wir haben es völlig unter Kontrolle.”
Donald Trump, Präsident der USA, am 22. Januar im CNBC-Interview aus dem schweizerischen Davos.

Wie Corona Klima-Ideologen enttarnt

Wolke

Wir erleben gerade ein Experiment. Ein total unwahrscheinliches Experiment, das sich Klimaforscherinnen und -forscher noch vor einigen Monaten gar nicht vorstellen konnten. Eigentlich müssten sie jubeln, denn sie haben jetzt die Möglichkeit, viele ihrer Thesen in der Realität dieser Krisenzeit zu überprüfen.

Durch den globalen °Lockdown“ bleiben fast alle Flugzeuge weltweit am Boden. Der Autoverkehr hat sich halbiert. Die Menschen bleiben zu Hause, konsumieren bewusster. Das ist das, was Klimakämpfer fordern, um die Erderwärmung in den Griff zu bekommen. Der CO2-Ausstoß müsste also derzeit dramatisch sinken. Oder?

Endlich eine Zahl

Bis vor Kurzem hieß es, die Auswirkungen der Krise auf den CO2-Ausstoß seien nur schwer zu messen. Doch jetzt liegt endlich eine Zahl vor. Diese Zahl stammt aus einer US-Analyse und wird nicht jedem Klimaforscher und -kämpfer gefallen: 5,5 Prozent!*

Der globale CO2-Ausstoß ist nicht um die Hälfte, nicht um ein Drittel – er ist um enttäuschend überschaubare 5,5 Prozent gesunken. Laut Rob Jackson, Vorsitzender des Global Carbon Project, könnte der CO2-Ausstoß gegenüber dem Vorjahr sogar lediglich um 5 Prozent sinken**.

Um das kurz einzuordnen: Klimaforscher sagen, er müsse Jahr für Jahr um 7,6 Prozent gedrosselt werden, damit wir nicht die heiße Hölle auf Erden erleben.

Strom, Licht, Internet

Wo kommt das viele CO2 in dieser globalen Atempause eigentlich her?

Auch während des “Lockdown“ und im Home Office brauchen wir alle Strom. Für Licht und Internet zum Beispiel. Der Strom wird weltweit immer noch zu großen Teil aus Kohle, Öl und Gas gewonnen. Während dieses Prozesses wird der größte Teil des weltweiten CO2-Austoßes in die Atmosphäre geblasen.

Das große Klima-Experiment zeigt: Solange wir diese Strukturen der Energieerzeugung nicht verändern, werden wir den globalen Temperaturanstieg nicht stoppen können. Trauen Sie also niemandem, der das Klima-Problem Flugzeugen und Autos in die Schuhe schieben will.

Die Krise hat uns und die Wissenschaft immerhin etwas schlauer gemacht.

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Quellen:
* CarbonBrief: https://www.carbonbrief.org/analysis-coronavirus-set-to-cause-largest-ever-annual-fall-in-co2-emissions

** Futurezone: https://futurezone.at/science/prognose-corona-bringt-groessten-co2-rueckgang-seit-dem-2-weltkrieg/400803083

Wie Spargel zum SUV unter den Gemüsen gemacht wurde

 

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Er kann doch eigentlich nichts dafür. So unschuldig weiß. So rank und schlank. Und immer etwas früher dran im Jahr als die anderen Gemüsesorten. Doch in den einschlägigen Fachblättern zum Thema Landwirtschaft, wie zum Beispiel dem Spiegel oder der taz aus Berlin-Kreuzberg, wird ihm jetzt der Prozess gemacht. Er sei ein Luxusgemüse, heißt es. Von gewissenlosen Spargelbaronen den reichen, neoliberalen Deutschen im frühen Frühjahr zum Fraß vorgeworfen.

Wenn die Spargelspitze im Hals stecken bleibt

„Die Regierung holt 50 Kinder aus den grauenhaften griechischen Flüchtlingslagern – und 80.000 Erntehelfer. Denn was könnte wichtiger sein, als den deutschen Spargel vorm Verrotten zu retten?“ ruft uns die Feministin und Autorin Margarete Stokowski in ihrer Spiegel-Kolumne in Form einer rhetorischen Frage zu. Spargel ist für Stokowski „der alte weiße Mann der Kulinarik“. Weg damit. Und überhaupt: Was ist mit den leidenden Kindern in Griechenland? Bäm! Der Vergleich ist – sagen wir mal – schwierig. Trotzdem bleibt dem Endverbraucher die Spargelspitze endgültig im Hals stecken.

Bei den miesen Gemüse-Geschäften helfen Billigspargelstecher aus Osteuropa, heißt es weiter. Sie werden trotz aller Viren-Gefahren auf deutsche Felder verfrachtet und müssen unter harten Arbeitsbedingungen dafür sorgen, dass privilegierte deutsche FDP-Wähler, Zahnärzte und sonstige Steuervermeider auch in diesem besonderen Jahr gierig das Edelgemüse verzehren können. So ungefähr geht die Geschichte. Herrlich! Das geht runter wie warme Hollandaise.

Der Journalist Jost Maurin schreibt den Spargel in der taz in Grund und Boden: „Um Luxusgemüse verkaufen zu können, werden tausende Erntehelfer gefährdet. Das ist menschenverachtend.“ Nie wieder soll sich eine zarte Spargelspitze unschuldig in den deutschen Frühlingshimmel recken! Maurin prangert die dunklen Geschäfte der „Spargelbarone“ an, die offenbar wichtiger seien als die Gesundheit von Menschen. Uff. Das hat gesessen. Auch wenn die Argumentation so hohl ist, wie ein leerer Spargeltopf.

Gemüse kennen sie nur aus dem Supermarktregal

Lieber Spargel. Es tut mir leid. Sie missbrauchen dich für ihr schlichtes politisches Programm. Tausende Menschen haben diese spargelverachtenden Zeilen auf Twitter liebgehabt. Den Spargelverachtern ist egal, dass die Erntehelfer bis in den September alle möglichen Sorten von Gemüse ernten. Du musst dafür büßen.

Ihnen ist auch egal, dass die deutschen Obst- und Gemüsebauern, ihre Ernte einbringen müssen, weil sie wirtschaftlich überleben wollen. Es ist ihnen egal, weil sie ihr Gemüse nur aus dem Supermarkt kennen. Oder aus dem Veggie-Bowl vom Lunch-Lokal um die Ecke. Woher kommt eigentlich Edamame? Dass es in Deutschland niemand gibt, der Gemüse auf Feldern ernten will oder kann, wird auch eher zurückhaltend erwähnt.

Du bist jetzt der gierige Vermieter unter den Gemüsen

Lieber Spargel, sie wissen nicht, was Saisongemüse bedeutet und dass du nur der Anfang der Erntetätigkeit in Deutschland bis in den Oktober bist. Sie wollen das alles auch gar nicht wissen. Ein Schuldiger muss her. Und das bist jetzt du! Du bist teuer. Du siehst fabelhaft aus, stehst irgendwie für Luxus. Du bist jetzt unter dem Gejohle auf Twitter zum satten Eigentumswohnungsbesitzer, zum gierigen Vermieter, zum SUV unter den Gemüsen erklärt worden.

Ich möchte, dass auch in Zukunft 40 Prozent des Gemüses und Obstes, das wir in unserem Land brauchen, in Deutschland produziert wird. Ich möchte, dass den deutschen Landwirten geholfen wird. Auch den Saisonarbeitern ist geholfen. Mit ihren aus deutscher Sicht niedrigen Löhnen, bringen sie ihre Familien durch das Jahr. Immerhin.

Und deshalb gehe ich in der Mittagspause an den kleinen Stand am Bayerischen Platz. Dort gibt es ein Kilo Spargel für 12,90 Euro. Wunderbar. Ausreichend für vier Portionen. Zwei Tage. Einmal mit Nudeln. Einmal mit Schnitzel. Schnitzel!? Aber das ist ein anderes Thema…

 

 

 

 

Wie ich zum Pandemie-Leugner wurde

Es ist eine überwältigende Situation. Menschen müssen zu Hause bleiben. Ein Virus breitet sich sehr schnell aus. Vor allem in Italien und Spanien spielen sich Tragödien ab. Die Weltwirtschaft geht in die Knie. Die Aktienkurse fallen ins Bodenlose. Da kann man schon mal nervös werden.

Aber warum ist es nicht möglich, sich sachlich mit Argumenten auseinanderzusetzen, die eine Sprache sprechen als die vorherrschende Lesart in Sachen Corona-Virus?

Der Lage nicht angemessen

Da wagt sich ein Wissenschaftler ins Radio und formuliert seine These. Seine Kernaussage: Die Maßnahmen, die wir gerade erleben, sind der Lage nicht angemessen. Diese These stützt er mit einer Reihe von Argumenten. Immerhin sind uns allen viele Freiheiten genommen worden.

Das Radio-Interview habe ich auf Facebook gepostet. Mit dem Gedanken, dass sich eine Debatte entwickelt, ob die politische und gesellschaftliche Reaktion auf die Bedrohung angemessen ist, ob diese These richtig ist. Ich habe da nämlich einige Zweifel – und bin damit übrigens nicht alleine. Vielleicht überzeugt mich jemand, dass ich falsch liege. Und der Wissenschaftler auch.

Unter dem Posting entwickelte sich schnell eine eifrige Diskussion. Leider wurde nicht ein einziges Mal kommentiert, was von der Kernthese des Wissenschaftlers zu halten sei. Stattdessen entlud sich die Wut über Prof. Dr. Stefan Hockertz.

Von gedanklicher Eigenleistung keine Spur

Da wurde mit härtesten Bandagen gearbeitet. Seine Qualifikation wurde ihm abgesprochen. Er wurde als Verschwörungstheoretiker hingestellt, das Umfeld der Veröffentlichung des Interviews als AfD-nah bezeichnet. Und nicht nur der Wissenschaftler wurde beschimpft – auch ich als derjenige, der das Interview verlinkt hatte, bekam die geballte Ladung ab.

Ich sei zu dumm, um zu kapieren, was für einen Unsinn der Mann erzählen würde, zu faul um die Wahrheit zu recherchieren, naiv, so einen Quatsch zu verbreiten. Höhepunkt der Diskussionskultur und argumentative Höchstleistung bestand in der Verlinkungen von endlosen Expertenpapieren oder Videoaufzeichnungen von Pressekonferenzen des Robert-Koch-Institutes. Von gedanklicher Eigenleistung wenig Spuren.

Eigentlich funktioniert ein zivilisierter Diskurs anders. Es wird eine These aufgestellt. Sie wird mit Argumenten gestützt und mit Gegenargumenten angegriffen. Am Ende kann sich jeder Beteiligte sein Urteil bilden.

Wer widerspricht, wird ausgeschlossen

In Sachen Klima und jetzt auch Corona funktioniert das offenbar anders: Das Urteil steht fest, bevor die These überhaupt formuliert wird. Argumente werden nicht mehr ausgetauscht. Der Fomulierer und Verbreiter der These werden herabgewürdigt. Am Ende wird jeder, der dem herrschenden Idiom widerspricht, aus dem Diskurs ausgeschlossen.

Ich bin jetzt auch ein Pandämie-Leugner! Nur weil ich es gewagt habe, einen Mann zu Wort kommen zu lassen, der einige meiner Zweifel ausspricht. Ich folge Hockertz längst nicht allen Argumenten. Im Gegenteil! Aber das wollte niemand mehr wissen. Viel wichtiger war es offenbar, die diskursiven Frontverläufe zu begradigen und jeden Zweifel über Bord zu werfen.

 

 

Zu meinem Post auf Facebook – hier entlang:

Corona? Alles wie immer!

Wer findet die richtigen Worte? Wer stellt die richtigen Fragen? Wer ordnet das Weltgeschehen ein und beweist Weitblick? In dieser Krise müsste das Ringen um Worte und Gedanken losgehen. Leitartikler, Durchblicker und Autoren müssten sich gegenseitig überbieten. Endlich die Gelegenheit, ganz grundsätzlich über unser Leben, die Wirtschaft, Staatengebilde, Zusammenhalt und den ganzen Rest nachzudenken.

Leider machen fast alle so weiter wie immer.

Das Lese-Wochenende war ernüchternd. Für die Merkel-muss-weg-Fraktion ist wie immer Merkel schuld. Die taz glaubt unbeirrt, dass der Neoliberalismus sowieso an allem schuld ist. Die Börsen-Oma schreibt über Kaufkurse. Und Heribert Prantl schreibt in der SZ einfach weiter über sein Unbehagen gegenüber Markus Söder. Das ist ernüchternd bis ärgerlich. Und dann soll es am Sonntag in der Telefonschalte der Länderchefs mit der Kanzlerin zu einem Streit gekommen sein. So steht es groß in allen Medien. Ach. Wirklich? Wann denn sonst Streit, wenn nicht jetzt?

Das alles liest sich, als ob mal wieder vom Ende der großen Koalition, den Ausfällen von Donald Trump, dem FC Bayern als kommendem Deutschen Meister oder der Föderalismus-Debatte die Rede ist. Vielleicht drei Millimeter über der intellektuellen Grasnarbe des Tagesgeschäfts.

Die Lage ist ernster, oder?

Die Straßen in New York sind menschenleer. In Italien sterben täglich Hunderte Menschen. Berlin steht still. Die Grenzen sind dicht. Millionen Menschen und Firmen stehen weltweit vor dem Ruin. Soziale Isolation ist verordnet. Beim Spaziergang wird jeder Huster und Nieser kritisch beäugt. Ab wann wird es feindselig auf unseren Straßen? Es geht deutlich mehr als das politische Tagesgeschäft. Wo sind die Texte, die die Lage in Worte fassen?

Für sachdienliche Hinweise wäre ich sehr dankbar!

Das Ende des „Haben wir schon immer so gemacht“

Das ist das Ende. Das Ende des „Haben wir schon immer so gemacht“-Deutschlands. Jetzt muss neu gemacht werden. Denn auf die alte Tour geht es nicht mehr. Vor allem Kommunikation muss neu gemacht und gedacht werden. Endlich! Auch wenn der Anlass kein schöner ist.

Ja, wir erleben gerade eine Kommunikations- und Arbeitstags-Revolution. Unsere geliebten und gewohnten Abläufe werden auf den Kopf gestellt. Wer gießt eigentlich die Topfblumen? Alles ist anders. Ohne Konferenzen, ohne persönlichen Kontakt in der Büro-Küche, ohne Chefbüro, Vorzimmer und Großraum-Scharmützel. Und viele arbeitenden Menschen stellen plötzlich fest, dass es funktioniert. Vielleicht sogar besser funktioniert als zuvor.

Vor dem Hintergrund dieser Krise sind Menschen plötzlich bereit, über das Netz ihrer Arbeit nachzugehen. Künstler verbreiten ihre Musik oder Perfomances über das Internet. Schüler lernen online. Mit digitalen Hilfsmitteln werden Konzerne gesteuert, Medien gestaltet, Kommunikation zwischen Arbeitskollegen aufrecht erhalten, Eltern betreut. Kleinkinder lernen das Alphabet und die Zahlen auf dem iPad.

Plötzlich werden ganz normale Leute, die sich sonst nicht für die digitale Welt interessieren zu Virtuosen. Sie werden kreativ und lassen sich auf Software ein, die sie zu normalen Zeiten niemals angefasst hätten. Um ihre Arbeit zu machen. Um ihre Probleme zu lösen. Weil es anders nicht geht. Und weil es sogar Spaß macht. Und mehr Zeit für die anderen Dinge des Lebens bleibt.

Wir lernen gerade, dass eine Menge Tätigkeiten des normalen beruflichen Alltags überflüssig sind. Slack, Teams oder Skype sparen Zeit. Und Nerven. Es lässt sich eine Menge per Email oder WhatsApp erledigen. Die versprochenen flachen Hierarchien sind auf einen Schlag Realität. Es wird plötzlich zugehört, mitgedacht, mitgemacht. Die Grenzen zwischen Job und Privatleben verschwimmen. Und es tut gar nicht weh. Im Gegenteil.

Das sind Erfahrungen, die auch nach Beendigung der Krise Auswirkungen haben werden. Will noch jemand zurück in die Morgenkonferenz, in der es vor allem darum geht, Machtgefüge zu verstetigen?

Oder kehren wir in ein paar Wochen an unsere Schreibtische zurück, als ob wir diese Erfahrungen nicht gemacht hätten. Hoffentlich nicht!

Foto: Susanne Jutzeler, suju-foto auf Pixabay