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Ohne Worte

Ein kalter Winter Mitte der 70er-Jahre. Ein Jugendzentrum vor den Toren Hamburgs. Heute ist „Plenum“. Der sprachgewandte Leiter dieser von der Stadt bezahlten Einrichtung stellt sich in die Mitte des Raumes. Cordhose. Rote Wuschelmähne. Sehr sprachgewandt. Er verliest die zu besprechenden Themen. Die Teilnehmer lümmeln sich auf den Sperrmüllsofas.

Schnell kommen Einwände. Das Publikum schaukelt sich hoch. Das sei alles viel zu unpolitisch. Man müsse mehr über die RAF und Nicaragua debattieren! Und überhaupt. Die USA und ihre imperialistischen Kriege! Hunger in der dritten Welt. Das neue Album der Rolling Stones. Dazu dürfe das Plenum auf keinen Fall schweigen.

Der Leiter hat Probleme, die Lage in den Griff zu bekommen. Er wollte vor allem über die prekäre Toilettensituation und den Tresendienst sprechen und ermahnt die Teilnehmer, sich an den vorgesehenen Ablauf zu halten. Innerhalb dieses von ihm festgelegten Ablaufes dürfe natürlich alles kritisiert werden, beteuert er.

Einen Tag später in der Aula des Gymnasiums.

Die Wahl der Schülersprecher steht an. Es gibt zwei politische Gruppierungen: Die Bundeswehrparka-Fraktion mit Palästinenser-Tüchern und die Scheitelträger mit Mänteln und schwarzen Aktentaschen.

Der Vertreter der Parkas entert die Bühne und hält seine Rede. Allgemeines Gejohle. Etwas müder Applaus. Abgang. Dann soll der Sohn des CDU-Landtagsabgeordneten in Kiel folgen. Pfiffe. Gebrüll. Geschrei. Er muss sich wieder setzen, ohne einen verständlichen Satz gesagt zu haben.

Ich frage meinen Sitznachbarn, warum er nicht reden darf. Er sagt: Der redet sowieso nur Mist! Bei der anschließenden Wahl siegen die Parkas mit überwältigender Mehrheit.

Jahrzehnte später in einer Kantine.

Einige Angestellte sezieren die aktuelle Politik der Geschäftsführung. Jeder am Tisch weiß ganz genau, was falsch läuft, welche Fehler gerade gemacht werden. Genüsslich werden alle Versäumnisse der Verantwortlichen aufgezählt.

Zwei Stunden später stellen sich die Chefs einer Diskussion im großen Meeting-Raum. Vollversammlung. Nach den Vorträgen der Bereichsleiter werden Fragen zugelassen. Niemand meldet sich. Auch nicht die Kantinen-Kritiker. Schweigen. Man kehrt wortlos zurück in die Büros.

FOTO: KAT JAYNE

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