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Muss Deutschland wirklich auf die Couch?

Nach fünf Jahren hat sich NZZ-Redakteur Benedict Neff mit einem langen Artikel von seinem Medium und seinen Lesern verabschiedet. Er schreibt darin, dass Deutschland ein Land sei, in dem Nüchternheit eine Provokation sei, sinnlose Aufgeregtheit dagegen an der Tagesordnung.  Doch das Gegenteil ist der Fall: So entspannt und gelassen war die Gesellschaft in Deutschland noch nie.

Eine Gegenrede

Kollege Neff macht einen Fehler in seiner Betrachtung. Er verwechselt die deutsche Gesellschaft mit der Medienblase in Berlin, mit Radikalen, Show-Debatten in Talkshows und in sozialen Netzwerken.

Vielleicht hätte Neff der ganz normalen deutschen Gesellschaft noch häufiger begegnen sollen. Dann hätte er festgestellt, dass der große Teil der Deutschen sich selten aufregt, unideologisch und entspannt unterwegs ist, jeden Tag zur Arbeit geht und sich über seine Familie und den Wohlstand in diesem Land freut.

Das große Heer der Babyboomer mit Nachwuchs hat sich wohlig eingerichtet. Es geht den Leuten gut. Jetzt kommen sie in ein Alter, in dem sie auch noch das Häuschen ihrer Eltern erben und bald geht es in Rente.

Die Kanzlerin der Pragmatiker

Ideologen wie in der Generation der 68er muss man in Deutschland suchen. Man findet sie noch vereinzelt in der Politik. In manchen Redaktionen. In sozialen Netzwerken. In extremistischen Kreisen. Aber die unideologischen Boomer und auch viele jüngere Deutsche sind cool. Sie haben sich passend zu ihrem alltagstauglichen Ansatz eine Kanzlerin gesucht, die ausschließlich kühlen Pragmatismus anzubieten hat.

Auch die meisten Journalisten sind nicht so aufgeregt, wie es Neff erscheint. Er erliegt wie viele Medienkonsumenten diesem Eindruck, weil wir den ganzen Tag mit Schlagzeilen, Kommentaren oder Tweets bombardiert werden. Das wirkt irgendwie aufgeregt. Doch wenn man genau liest – und die Ruhe bewahrt – dann relativiert sich dieser Eindruck. Viele Deutsche freuen sich, dass scharfe, politische Debatten in unserem Land möglich sind.

Flüchtlinge? Alltag in Deutschland

Auch die Rezeption der Flüchtlingskrise war nicht so aufgeregt, wie Neff konstatiert. Im Gegenteil. Eigentlich lief sie ganz normal. Flüchtlinge wurden begrüßt. Am Münchener Hauptbahnhof standen Deutsche Spalier und versorgten die eingereisten Menschen mit dem Nötigsten. Wie man das macht, wenn man ein mitfühlendes, menschliches Wesen ist.

Später wurden irgendwann Fragen gestellt, was die Flüchtlinge die Gesellschaft kosten und wie und ob sich unser Land verändern wird. Ein völlig normaler, gesellschaftlicher Vorgang. Aufgeregtheit? Keine Spur. Heute sind viele Flüchtlinge trotz der verheerenden Silvesternacht in Köln gut integriert. Viele sind es nicht. Alltag in Deutschland inzwischen.

Ja, es gibt Deutsche, die das Flüchtlings-Thema genutzt haben, um sich zu radikalisieren. Der Mord an Walter Lübcke, Brandanschläge und Gewalt sind entsetzliche Folgen dieser Radikalisierung. Diese Extremisten bilden aber in keiner Weise die deutsche Gesellschaft ab. Und sie haben häufig noch nie einen Flüchtling gesehen.

Muss Deutschland auf die Couch?

Höcke und der Aufstieg der AfD, Flüchtlinge, Wahl in Thüringen – bringt das die Deutschen wirklich um den Verstand?

Benedict Neff zitiert den Schriftsteller Maxim Biller: “Ich fühle mich mit den Deutschen wie ein Psychiater, der langsam auf seinen Patienten keine Lust mehr hat.” Und schreibt weiter: “So weit würde ich nicht gehen, weil mich der Patient nach wie vor fasziniert. Aber nach fünf Jahren, glaube ich, tut es ihm ganz gut, wenn er zur Abwechslung mal einen anderen Psychiater bekommt.”

Dem Patienten geht es viel besser als Neff glaubt. Er schreibt, dass er es als Auslandskorrespondent etwas leichter hat als deutsche Kollegen: “Man lässt sich weniger hinreissen und mitreissen. Das kann hilfreich sein, wenn es darum geht, zu beschreiben, was ist.”

Vielleicht hat er sich doch sehr viel mehr mitreissen lassen, als ihm selbst bewusst ist.

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